Grußwort Bundestags_vize_präsidentin Claudia Roth & Rede Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2019

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth Grußwort Dyke*March Rhein-Neckar 2019

Liebe Verbündete aller Farben des Regenbogens, liebe Frauen*, liebe Lesben, liebe Queers, liebe Dykes, liebe Sternchen!

Von Herzen wünsche ich euch einen bunten, lauten, starken und zugleich bestärkenden Dyke*March – und schicke feministische Grüße an Rhein und Neckar.

Ja, wir haben allen Grund zu feiern, denn wir haben so viel erreicht. Wir haben Öffentlichkeit geschaffen und Rechte erkämpft, haben widerwärtige Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch verbannt und die Ehe für alle erstritten. Gemeinsam. Wir alle, die wir nicht in irgendwelche Schubladen passen und zurecht stolz darauf sind. Wir alle, die wir uns nicht in ein Klischee pressen lassen, sondern ausbrechen aus vermeintlichen Zwängen. Wir alle, die wir aus vollster Überzeugung für Vielfalt streiten, Vielfalt leben – Vielfalt, die doch so viel mehr ist als die Summe all unserer Einzigartigkeiten.

Bei alledem weisen uns in diesem Jahr gleich vier bedeutende Jubiläen den Weg. Erstens: Vor gut einhundert Jahren wurde das Frauenwahlrecht erkämpft. Ein historischer Meilenstein! Der Anteil weiblicher Abgeordneter im Deutschen Bundestag liegt derweil aber bei schlappen 31 Prozent – von einem gerechten Anteil lesbischer Frauen, von einer angemessenen Repräsentation von Trans-Frauen, Women of Colour, Frauen mit Beeinträchtigung ganz zu Schweigen! Immer noch sitzen überproportional viele Männer an den Schaltstellen der Macht, diskriminierende Strukturen sind tief in unserer Gesellschaft verankert. Umso entscheidender wird es sein, Politik radikal feministisch durchzudeklinieren. Freiwilligkeit ist gescheitert. Tatsächliche Teilhabegerechtigkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen wird nicht von allein entstehen. Nur mit verbindlichen Mechanismen werden wir das Patriarchat abschaffen können. Und nicht weniger sollte unser Ziel bleiben.

Zweitens: Vor rund siebzig Jahren, am 23. Mai 1949, erblickte unser Grundgesetz das Licht der Welt. Von Geburt an besaß dieser Text die unendliche Weitsicht, eben nicht den Staat, nicht Institutionen oder demokratische Abläufe, sondern den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So heißt es in Artikel 1. Da steht nichts von Heterosexualität, von Mann oder Frau, von weiß oder deutsch. Da steht ohnehin kein Adjektiv, keine Einschränkung, keine Umschreibung. Da steht: Mensch – ohne Kategorie, ohne Wenn und Aber. Dieses radikale Versprechen unserer Demokratie müssen wir weiter stetig einfordern. Am Rhein, am Neckar, an allen Ufern gleich welchen Flusses in Deutschland.

Drittens: Alles erdenklich Gute zu fünfzig Jahren Pride, zu fünfzig Jahren Christopher Street, zu fünfzig Jahren Stonewall. Stonewall, das war ein entscheidender Moment für das Selbstbewusstsein der LGBTIQ*-Bewegung. Vergessen wir aber nicht: Stonewall, das war nicht Regenbogen, sondern Aufbegehren – von Drags und People of Colour, gegen Ausgrenzung und Rassismus, für Menschenrechte und die unantastbare Würde aller. Lasst uns also nicht bescheiden sein: Das Aufbegehren geht weiter.

Viertens: Vor dreißig Jahren machte uns Professorin Kimberlé Crenshaw mit dem Konzept der Intersektionalität ein großes Geschenk. Mehrfachdiskriminierung war bis dahin den wenigsten ein Begriff gewesen. Crenshaw änderte das – und ebnete den Weg für ein besseres Verständnis von Ungerechtigkeit, für mehr Kooperation, für den gemeinsamen Einsatz unterschiedlichster Bewegungen für das eine große Ziel: die Freiheit und Gleichheit aller.

Vier Jubiläen also, in einem einzigen Jahr. Sie alle sollten uns Auftrag sein, das Werk unser Vorkämpfer*innen fortzuführen – und solange nicht zu ruhen, bis endlich selbstverständlich ist, was längst selbstverständlich sein sollte.

Das gilt hier, in Deutschland, wo strukturelle Diskriminierung und auch Gewalt gegen LGBTIQ* fortwähren. Auch in Deutschland reichen sich Queerfeindlichkeit, Rassismus und Sexismus die Hand – umso mehr in einer Zeit, da einige wieder bestimmen wollen, wer dazugehört und wer nicht. Es gilt aber auch über jede Grenze hinaus. In mehr als achtzig Staaten dieser Erde können Menschen dafür inhaftiert werden, dass sie lieben, wen sie lieben, dass sie sind, wer sie sind. In sieben Ländern droht sogar die Todesstrafe. Und weltweit arbeiten Sexisten und Rassisten weiter daran, emanzipatorische Errungenschaften abzubauen und sich zurückzuholen, was ihnen nie gehört hat.

Diesen Zustand zu überwinden, ist Aufgabe der demokratischen Gesamtgesellschaft. Der Angriff auf die Würde einiger nämlich stellt unser aller Würde, stellt letztlich nicht weniger als die Universalität der Menschenrechte infrage. Lasst uns also gemeinsam weiter ungeduldig sein, weiter einfordern, weiter auf die Straße gehen – vereint und solidarisch. Lasst uns queerdenken, im wahrsten Sinne des Wortes. Lasst uns also den Einsatz gegen Ausgrenzung und Diskriminierung verbinden mit dem Kampf gegen Rassismus, gegen die Klimakrise, gegen all den Hass. Nicht umsonst heißt es: one struggle, one fight!

Setzen wir den Ewiggestrigen mit geballter Energie unsere bunte Realität entgegen. Geben wir nicht klein bei. Streiten wir weiter für eine feministischere, gerechtere Zukunft. Unsere Rechte nämlich, eure Rechte, die sind kein Almosen. Eure Rechte gehören euch. Holt sie euch – und gebt sie nie wieder her.

Happy Dyke*March, meine Lieben!

Ach, und: VOTE FOR Women*! VOTE FOR DYKES! Wählt gleiche Rechte!

Herzlichst, eure Claudia Roth

 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Veranstaltung „100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland. Parität in der Politik“ am 15. Januar 2019 in Schloss Bellevue

Herzlich willkommen zu dieser kleinen Matinee, mit der wir an einen großen Tag erinnern wollen: an den 19. Januar 1919, einen Sonntag.

Ein Sonntag, an dem die erste tatsächlich freie und allgemeine Wahl zur Deutschen Nationalversammlung stattfand und damit auch der Tag, an dem die Frauen in diesem Land zum ersten Mal ihr Wahlrecht ausüben konnten.

In vielen Veranstaltungen wird in diesen Tagen landauf, landab daran erinnert. Da tut gut. Aber Erinnern ist nicht genug. Mit dieser Veranstaltung wollen wir – wie man sieht, Frauen und Männer gemeinsam – diesen Tag würdigen und auch feiern.

Louise Otto-Peters, eine der Ersten, die für die Frauen in Deutschland nach diesem Recht verlangte, stellte ihr Engagement unter die Devise: „Dem Land der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen.“ Deutschlands erste Republik, die Weimarer Demokratie, war dieses Reich der Freiheit, und deshalb wurden am 19. Januar 1919 Deutschlands Frauen endlich vollberechtigte Bürgerinnen. Das ist die eigentliche politische Bedeutung dieses Datums – und es ist die Verpflichtung, der gerecht zu werden bis heute unsere Aufgabe ist!

Das sage ich ganz ausdrücklich als Inhaber eines Amtes, das – wenn ich recht darüber nachdenke – tatsächlich das letzte in unserem Land ist, das bisher nicht von einer Frau ausgefüllt wurde.

Einhundert Jahre Frauenwahlrecht sind Anlass zur Freude – nicht nur für die Frauen. Sie sind Anlass, den mutigen Frauen zu danken, die dieses Recht erkämpft und durchgesetzt haben, denn selbstverständlich gibt es keine Freiheit ohne die Freiheit der Frauen. Kein Menschenrecht, kein Bürgerrecht ist nur einer Hälfte der Menschheit vorbehalten.

Louise Otto-Peters, Hedwig Dohm, Helene Lange, Minna Cauer und Helene Stöcker hatten das schon vor 1919 angemahnt. Sie taten es klug, ausdauernd und hartnäckig, wie viele Frauen, die sich dann in ihrer Nachfolge für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzen, Ich denke an die ersten weiblichen –abgeordneten der Weimarer Parlamente, an Marie Juchacz, Helene Weber oder Clara Zetkin. Sie wussten, dass es dauern kann, Männer und auch viele Frauen von der Idee der politischen Gleichheit zu überzeugen. Und sie wussten, dass es noch einmal länger dauern wird, bis aus den Widersachern Mitstreiter  werden für die eine gemeinsame Sache: die Sache der Demokratie. Aber sie haben in Leidenschaft und Solidarität niemals nachgegeben, und sie haben dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung gegeben! Eine wunderbare Erfahrung für alle Demokratinnen und Demokraten.

Frauen haben in diesen einhundert Jahren viel erreicht. Wir haben in Ost- und Westdeutschland große Politikerinnen erlebt. Politikerinnen, die nicht nur Frauen zu Vorbildern: Annemarie Renger, Hildegard Hamm-Brücher, Rita Süssmuth, Christine Bergmann, Regine Hildebrandt. Eine unvollständige Liste, auf der viele noch fehlen, die dazugehören.

Einhundert Jahre nach der Einführung des Wahlrechts für Frauen wird dieses Land von einer Frau regiert, die sich in den Jahren ihrer Regierungszeit große Anerkennung und Respekt verdient hat, in Deutschland und in der Welt. Unsere Streitkräfte werden von einer Frau befehligt und die beiden ältesten Parteien des Landes von Frauen geführt.

Jede einzelne dieser Frauen bekräftigt, wie jede Politikerin und Parlamentarierin, dass es keine Demokratie als Idee von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit geben kann, an der nicht Männer und Frauen gleichermaßen beteiligt wären. Doch was uns heute selbstverständlich erscheint, galt deshalb nicht schon immer. Was Louise Otto-Peter für die Frauen reklamierte, dass ihre Teilnahme an den Interessen des Staates kein Recht, sondern vielmehr Pflicht ist, muss gleichwohl hart erkämpft werden.

Und die vergangenen einhundert Jahre zeigen uns, dass die politische Emanzipation der Frauen alles andere als selbstverständlich war. Nicht, auch nicht die Durchsetzung des Frauenwahlrechts, war unumkehrbar. Die Geschichte der Frauenrecht ist , wie die Demokratiegeschichte selbst, keine geradlinige und keine, die ohne Rückschläge geblieben wäre.

Vor einigen Tagen machte eine Fotografie aus den USA die Runde. Sie zeigt die neuen weiblichen Abgeordneten des amerikanischen Repräsentantenhauses, die sich, angeführt von der Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, zu einem Gruppebild der Debütantinnen zusammengefunden hatten. Es ist ein besonderes Bild, denn es weist darauf hin, dass es nun deutlich mehr weibliche Abgeordnete im US-Kongress geben wird. 42 neue weibliche Abgeordnete sind es insgesamt im Senat und dem Repräsentantenhaus. 42 Frauen, die der männlichen –Dominanz in der gegenwärtigen amerikanischen Administration etwas entgegensetzen wollen.

Das Foto – deshalb erwähne ich es – führt uns mitten hinein in das Thema dieser Matinee. Es erinnert – von den demokratischen Politikerinnen gewollt – an ein Foto, das vor einhundert Jahren hier in Deutschland entstanden ist. Diese historische Aufnahme, die viele von Ihnen kennen, zeigt die weiblichen Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung im Februar 1919.

Die Frauen dieses ersten Weimarer Parlaments stellten 9 Prozent der Abgeordneten und damit – mit großem Abstand –bis in die 1920er Jahre hinein den höchsten Frauenanteil unter den gewählten Abgeordneten der Welt. 37 Frauen wurden nach der Wahl vom 19. Januar 1919 in die verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung gewählt. Das ist eine für damalige Verhältnisse stolze Zahl – vor allem, wenn man bedenkt, dass es danach bis zur Bundestagswahl 1987 gedauert hat, bis der Frauenanteil im deutschen Parlament erstmals mehr als zehn Prozent betrug.

Im Verlauf der Weimarer Republik nahm die weibliche Beteiligung in den Parlamenten allerdings stetig ab, bis den Frauen unter nationalsozialistischer Herrschaft schließlich das passive Wahlrecht wieder genommen wurde. Und wie wir wissen, können die deutschen Frauen der späten 1920er-Jahre leider nicht für sich reklamieren, gänzlich unbeteiligt an der Abwahl der Demokratie gewesen zu sein.

Die Zeit des Nationalsozialismus aber wirkte nach. Was unter nationalsozialistischer Herrschaft an einmal Erreichtem preisgegeben wurde, musste dann nach 1945 wieder neu erkämpft werden. Im Parlamentarischen Rat der Bundesrepublik saßen unter 61 Männern lediglich vier Frauen. Die zahlenmäßig bescheidene weibliche Besetzung trat jedoch glücklicherweise deshalb nicht etwa bescheiden auf. Die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert setzte den Passus „Männer und Frauen sind Gleichberechtigt“ im Grundgesetz nahezu im Alleingang durch, jedenfalls gegen heftigen Widerstand der Männer, aber auch gegen manche Vorbehalte in den Reihen der Frauen.

Sie wollte sich nicht mit der ursprünglichen Formulierung des Artikels 3 zufrieden geben, der noch aus der Weimarer Verfassung stammte und lautete: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Elisabeth Selbert wollte mehr, nämlich eine umfassende Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die sie als „imperativen Auftrag an den Gesetzgeber verstanden wissen wollte.

Dass dieser Auftrag in mancher Hinsicht, etwa was die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit angeht, auch heute noch besteht, bezeugt, wie klug und weitsichtig die Juristin Elisabeth Selbert vorging. Sie war, wie viele ihrer Mitstreiterinnen, Mitglied des Deutschen Juristinnenbundes, der die Ausgestaltung des Rechts maßgeblich mitgestaltet hat. Ich freue mich sehr, Sie geehrte Frau Professorin Wersig, heute hier begrüßen zu dürfen. Und ich bin gespannt, auf die heutige Podiumsdiskussion darüber, wie wir in Deutschland mehr Teilhabe von Frauen in der Politik und den Parlamenten erreichen können.

Ich kann verstehen, dass Frauen sich in diesen Fragen nicht allein auf die Unterstützung der Männer verlassen wollen. Und selbstverständlich wäre es auch deshalb wünschenswert, wenn sich der stark zurückgegangene Frauenanteil im Deutschen Bundestag wieder erhöht. Aber ich weiß auch: Das ist leicht dahingesagt. Und deshalb füge ich hinzu, ich bin ebenso davon überzeugt: Gleichzeitig dürfen sich Männer nicht länger in der Komfortzone ausruhen – viele tun es ja auch nicht -, denn Frauenrechte sind nicht die Sache von Frauen allein. Wenn wir die gläserne Decke sprengen wollen, müssen wir sie von beiden Seiten traktieren. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Und je mehr Männer auch mal die Perspektive der Frauen einnehmen, sie dezidiert unterstützen und die faire Beteiligung von Frauen eher als Bereicherung oder Ansporn betrachten, je näher werden wir dann auch der gewünschten Parität kommen.

Demokratie ist Überzeugungsarbeit. Frauen sind nicht immer die besseren Vertreterinnen der eigenen Sache und Männer nicht ihre natürlichen Gegner.

Ich wünsche mir an diesem 100. Geburtstag des Frauenwahlrechts, dass wir alle erkennen, dass Frauenrechte unsere gemeinsame Sache sind und bleiben müssen.